400 Contergan-Opfer leben in Norddeutschland

Artikel aus dem HH Abendblatt

An der Schön Klinik Hamburg Eilbek untersuchen Ärzte ab sofort gezielt betroffene Patienten. 400 Contergan-Opfer leben in Norddeutschland. Umstrittener Wirkstoff ist immer noch zugelassen

 

Gernot Stracke freut sich sehr: "Endlich haben wir in Norddeutschland eine Anlaufstelle, wo uns kompetente Ärzte fachübergreifend an einem Ort beraten und behandeln", sagt der Vorsitzende des Hilfswerks für Contergangeschädigte in Hamburg (HICOHA).

Er ist einer von 400 Menschen in Norddeutschland, die zwischen 1958 und 1962 mit verkürzten und veränderten Gliedmaßen geboren wurden. In Deutschland leben insgesamt 2700 Geschädigte des weltweit größten Arzneimittelskandals. "Diese Menschen brauchen eine Sprechstunde, die ihrer vielschichtigen Erkrankung und den damit zusammenhängenden Einschränkungen der Mobilität und ihren seelischen Verletzungen gerecht wird", sagt Oberarzt Dr. Rudolf Beyer. Der Anästhesist und Schmerztherapeut leitet die Contergansprechstunde an der Schön Klinik Hamburg Eilbek, die auf Initiative von HICOHA und in Zusammenarbeit mit der Hamburger Gesundheitsbehörde kürzlich eröffnet wurde – 56 Jahre nach der Geburt der ersten Conterganopfer.

In der Contergansprechstunde untersuchen Dr. Beyer und ein Orthopäde jeden Patienten sehr gründlich. Fehlende Beine, missgebildete Hände, Gehörlosigkeit, Sehstörungen, Blindheit und teils schwerwiegende Schäden an inneren Organen – die Schädigungen durch Contergan, das die Herstellerfirma Grünenthal als harmloses Beruhigungsmittel auch Schwangeren anpries, schienen bekannt. Doch nach jahrzehntelanger Fehl- und Überbelastung sind auch ursprünglich gesunde Gelenke abgenutzt.

Einige Geschädigte brauchen neue Gelenke

Um ein selbstständiges Leben führen zu können, haben viele Geschädigte bereits als Kleinkinder begonnen, fehlende Gliedmaßen durch vorhandene zu kompensieren – sie schreiben mit dem Mund, kämmen sich mit Füßen und Zehen, robben auf den Knien über den Boden. "Inzwischen haben alle ähnliche Probleme: Die Zähne sind kaputt, weil sie jahrelang helfen mussten, Flaschen und Verschlüsse zu öffnen. Die Rücken schmerzen und die Hüften sind verschlissen. Chronische Schmerzen prägen ihren ohnehin schon komplizierten Alltag", sagt Dr. Beyer. Einige Contergangeschädigte brauchen daher auch neue Gelenke. "Das ist gar nicht trivial", weiß Gernot Stracke. "Wir brauchen auch eine spezielle Reha. Als Mensch ohne Arme kann man mit den üblichen Gehstöcken und Lauflernhilfen gar nichts anfangen." Zwei Reha-Zentren in Hessen und Nordrhein-Westfalen bieten spezielle maßgeschneiderte Therapien für Patienten mit Conterganschäden an.

Während Rudolf Beyer die Patienten entsprechend der standardisierten Erhebung bei Schmerzpatienten befragt, ihnen Blut abnimmt, um die Blutwerte zu bestimmen und Risikofaktoren zu ermitteln, untersucht der Orthopäde jedes Gelenk, jeden Knochen. "Wir brauchen gut zweieinhalb Stunden, um die Komplexität der Schädigung zu erfassen. Jeder Patient soll hier weggehen und genau wissen, was los ist und welche Behandlungen wir für ihn für sinnvoll halten. Die Bandbreite der Schädigungen ist enorm. Es gibt kein homogenes Schadensbild in dieser Patientengruppe und somit keine Standardlösung", sagt Rudolf Beyer. Neben den offensichtlichen Schäden beobachteten die Mediziner in den vergangenen Jahren zudem, dass die Patienten vergleichsweise häufiger einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden, dass Demenzerkrankungen schneller verlaufen. Offensichtlich hat Contergan das Gefäß-, Sinnes- und Nervensystem vorgeburtlich weit mehr geschädigt als bislang bekannt.

Die erste wissenschaftliche Bestandsaufnahme kam 2012

Diese Spätfolgen waren bis zur ersten wissenschaftlichen Bestandsaufnahme im Jahr 2012, in der das Gerontologische Institut der Universität Heidelberg im Auftrag des Bundes die Lebenssituation von contergangeschädigten Menschen erfasste, gar nicht geläufig. Erst diese Studie enthüllte zahlreiche "unsichtbare" Folgen des Arzneimittelskandals, an denen heute teilweise auch Menschen leiden, die noch gar nicht als Contergangeschädigte anerkannt sind. "Als die offensichtlichen Schäden erstmals auftraten, hatten wir noch keine Techniken, mit denen wir die weniger sichtbaren Schäden hätten sichtbar machen können", sagt Beyer.

"Gründliche Untersuchungen sind für uns auch wichtig, um von der Conterganstiftung des Bundes eine korrekte finanzielle Entschädigung in Form einer 'Conterganrente' zu erhalten", ergänzt Gernot Stracke. Deren Höhe ist abhängig vom Schweregrad der Schädigungen. Dieser wird seit dem Erscheinen der Studie der Universität Heidelberg auf Antrag neu berechnet. Wurden Primärschäden früher aufgrund fehlender Diagnostik nicht erkannt oder Spätfolgen, wie beispielsweise Schädigungen des Gleichgewichtsorgans im Innenohr, bisher übersehen, so kann die Contergansprechstunde entscheidend dazu beitragen, Revisionsanträge auf den Weg zu bringen. Stellen die Mediziner an der Schön Klinik Hamburg Eilbek nach der Anamnese in der Contergansprechstunde fest, dass der Patient weitere Untersuchungen braucht, können sie ihn für drei bis vier Tage stationär aufnehmen und Internisten, Neurologen oder Psychologen hinzuziehen. Beyer: "Der Sozialdienst der Klinik und die Pain Nurse unterstützen die Patienten, damit ihr Alltag weniger beschwerlich wird." Um Augen und Ohren zu untersuchen, kommen externe Partner ins Haus, oder die Patienten werden zu ihnen gebracht.

Wirkstoff Thalidomid ist immer noch auf dem Markt

Vor allem aber bietet die Contergansprechstunde den Betroffenen in Norddeutschland eine dauerhafte Anlaufstelle. Denn Beyer hat eine kassenärztliche Zulassung erhalten, so dass seine Patienten immer wieder kommen können. Eines kann diese Sprechstunde aber nicht leisten: Sie kann die Heidelberger Studie nicht fortsetzen und auch nicht die Geschichten der 400 Geschädigten in Norddeutschland oder gar der 2700 Betroffenen deutschlandweit erfassen und auswerten – auch wenn das dringend geboten wäre, allein schon, um die Versorgung dieser Patientengruppe in Deutschland zu verbessern.

Contergan, präziser gesagt: der darin enthaltene Wirkstoff Thalidomid, ist übrigens nicht vom Arzneimittelmarkt verschwunden. Er wird erfolgreich bei der Therapie von besonders schweren Formen von Lepra eingesetzt und darf unter anderem in Australien, Neuseeland und den USA auch für die Behandlung einer speziellen Form des Brustkrebses genutzt werden. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist er in der Behandlung bestimmter Krebserkrankungen seit Jahren wieder zugelassen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass Mediziner in Brasilien und Kolumbien auch schwangere Lepra-Kranke damit behandelten. Erneut wurden Kinder mit Fehlbildungen geboren.

 

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